Es gibt viele Geschichten, Anekdoten und Legenden, in denen von den Wierschemern und ihrem Dorf die Rede ist. Johanna Schneider (*1922) hat vieles zusammengetragen und aufgeschrieben und damit ihren Platz als Dorfchronistin in der Wierschemer Geschichte eingenommen. Nach dem Tod von Johanna Schneider im Jahr 2014 gingen alle Unterlagen ihrer jahrelangen Recherche an ihre beiden Töchter Anita Dünchem und Elvira Jung über.

Beide kennen vieles aus den Erzählungen ihrer Mutter, aber einiges haben sie auch selbst erlebt. So zum Beispiel auch die Geschichte von der eucharistischen Taube.

„Ich erinnere mich noch genau,“ erzählt Elvira Jung, „ich war noch ein Kind, da gab es hier im Wierschemer Saal einen Filmvortrag. Da muss Mitte oder Ende der 50er Jahre gewesen sein. Da war ein Geistlicher, der hat diesen Film gezeigt. Es ging um eine Ausstellung in Köln und auch noch um andere Themen, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Aber was ich noch genau weiß: Da war dann diese Taube auf der Leinwand zu sehen und plötzlich wurde es sehr unruhig im Saal. Nikolaus Dünchem, ein Mann von etwa 60 Jahren - der wohnte damals Auf der Spreeg - wurde ganz aufsässig und rief: ‚Dat es de Wierschemer Tauf‘. Er erzählte, dass er die Taube erkannt hätte, weil er Messdiener gewesen sei. Die Wierschemer waren richtig aufgebracht, sodass der Pater zusehen musste, die Leute wieder zu beruhigen

[…]

Man hat sich danach auch zuhause über die Taube unterhalten und sich gegenseitig gefragt, wer denn noch etwas wisse von der Taube. Da kam dann heraus, dass Elisabeth Schnorpfeil (geb. Hendgen, geb. um 1880) als Kind mit der Taube in der Wierschemer Kirche gespielt habe. Ihre Tante hatte damals den Küsterdienst verrichtet und hatte das Kind mitgenommen. Die Taube lag zu dieser Zeit in der Kirche in einem Spind unter der Treppe, wo man auch Putzmittel aufbewahrt hatte.

[…]

Als die Kirche später frisch gestrichen wurde, hat einer der Anstreicher aus Münstermaifeld die Taube entdeckt und wohl ihren Wert erkannt. Er brachte sie nach Münstermaifeld ins Pfarrbüro.

Später gab es in Münstermaifeld ein Stadtfest, da hieß es dann: Die Taube wird zu diesem Anlass hinter Panzerglas präsentiert. Meine Mama (Anm.d.Red.: Johanna Schneider) wollte das natürlich sehen und nahm uns Kinder mit. Damals habe ich die Taube dann in der Glasvitrine in der Kirche das erste Mal gesehen. ‚Dat es die Tauf,‘ hat die Mama dann gesagt.“

Tatsächlich befand sich diese Eucharistische Taube einige Jahre lang unerkannt in der Wierschemer Kirche, wie Elvira Jung berichtet.

Domkapitular Alexander Schnütgen, der sich im später 19. Jahrhundert als Sammler christlicher Sakralkunst einen Namen machte, beschreibt in einem Artikel Im Bonner Jahrbuch 83 von 1887 die Auffindung der Taube wie folgt:

In Münstermaifeld hat der Zufall die Aufmerksamkeit auf ein eben so seltenes als merkwürdiges liturgisches Gefäss hingelenkt, welches dort Jahrhunderte vorhanden, aber bis jetzt unbeachtet geblieben war. Als nämlich bei der Restauration der altberühmten Stiftskirche vor 30 Jahren die spätgothische Steinkanzel mit ihrem zopfigen Schalldeckel entfernt wurde, um in der Filialkapelle zu Wierschem aufgestellt zu werden, musste von dem hölzernen Deckel die angeblich mit Stoff überzogene Kuppel wegbleiben, weil ein Holzanker ein unüberwindliches Hinderniss für ihre Anbringung bildete.

Die Kuppel bekrönte eine Holzkugel und diese als Symbol des die Verkündigung des göttlichen Wortes unterstützenden hl. Geistes eine metallene Taube, die ganz mit Goldbronze überschmiert war. Sie wurde von einem bei dem Abbruche beschäftigten Arbeiter in Verwahr genommen und behalten, ohne dass er irgendwelche Ahnung von ihrer Bedeutung hatte. Diese dämmerte ihm erst auf, als ihm vor einigen Monaten das Katakombenbuch von Ott in die Hände fiel, in dem 2 metallene Tauben, die zur Aufbewahrung der hl. Eucharistie dienten, abgebildet sind.

Der Pfarrer, dem er sofort seine Entdeckung mittheilte, bestätigte die Vermuthung, zumal sich bei der Entfernung des Bronzeüberzuges herausstellte, dass die Flügel ganz mit Schmelzwerk verziert waren. Der Wunsch des Pfarrers, nähere Auskunft über das seltene Gefäss zu erhalten, führte es nach Köln, wo ich es in natürlicher Grösse photographisch abbilden liess. An dieses Bild, welches die Taube in dem Zustande zeigt, in dem sie gefunden wurde, die Reinigung der Flügel allein ausgenommen, knüpfe ich deren Beschreibung an, der einige Bemerkungen über dieses liturgische Gefäss im Allgemeinen, sowie über die davon noch erhaltenen Exemplare werden vorhergehen müssen.

Otto Wölbert, Nachfahre der Werkstatt für Altarbau und Restaurierung Port in Münstermaifeld, kann als Amtsrestaurator beim Landesdenkmalamt Baden-Württemberg a.D. über mehr als vier Jahrzehnte Erfahrung in Sachen Restaurierung und Konservierung von sakralen und profanen Kunstgegenständen zurückblicken. Als gebürtiger Münstermaifelder ist er an der Geschichte der Eucharistischen Taube natürlich besonders interessiert und hat sich viele Jahre mit der Recherche zu diesem Thema befasst.

„Geschaffen wurde diese Art von Tauben im französischen Limoges, dem mittelalterlichen Zentrum für Emaille-Arbeiten. Es gibt keinen Nachweis, wann, wie und woher die Taube ins Maifeld gekommen ist. Wir wissen nur, dass Vincenz Statz Mitte der 1860 Jahre die Stiftskirche in Münstermaifeld restauriert und neugestaltet hat. Dabei ließ er die barocke Kanzel samt Schalldeckel entfernen, da sie nicht mehr dem Zeitgeschmack des 19. Jahrunderts entsprach. Die Kanzel wurde nach Wierschem gebracht und dort aber wegen der niedrigeren Raumhöhe ohne Schalldeckel montiert. Und so verschwand der Schalldeckel samt oben aufmontierter Taube in einer Abstellkammer.“

Die Eucharistische TaubeDie Eucharistische TaubeEucharistische Tauben dienten im 12. und 13. Jahrhundert als Aufbewahrungsort der Hostie während der Wandlung. Sie waren meist über dem Altar schwebend hinter einem Vorhang angebracht und kamen nur zu diesem einen bestimmten Zweck zum Einsatz. Diese Gefäße waren äußerst kostbar und sicherlich konnten sich nur sehr wohlhabende Kirchengemeinden eine solche Taube leisten. Die Blütezeit der Eucharistischen Tauben war jedoch nur sehr kurz, denn spätestens im 14./15. Jahrhundert wurden sie von Sakramentshäusern und Tabernakeln als Aufbewahrungsort des eucharistischen Brotes abgelöst.

Unbekannt ist bis heute, wie das liturgische Gefäß auf den Schalldeckel der barocken Kanzel in der Münstermaifelder Stiftskirche kam. Otto Wölbert vermutet:

„Die Taube muss irgendwie kaschiert gewesen sein, sonst hätten spätestens die Franzosen auf ihrem Rückzug während des Pfälzischen Erbfolgekriegs (1688–1697) dieses kostbare Stück mitgenommen. Als die Filialkirche in Wierschem in den 1880er Jahren von den Gebrüdern Balmus (Balmes) neu geweißelt wurde, spielten deren Kinder mit Wierschemer Kindern auf der Baustelle und entdeckten die Taube in der Abstellkammer. Einer der Brüder Balmus wurde auf das ungewöhnliche Spielzeug aufmerksam und nahm es an sich. Der Handwerker muss ein sehr belesener und kunstinteressierter Mann gewesen sein, denn laut Alexander Schnütgen fiel diesem Balmus-Bruder nach einiger Zeit ein, dass er solche Taubendarstellungen auch in einem Buch über die Katakomben in Rom gesehen hatte.

Der Handwerker ging daraufhin zum Münstermaifelder Pastor, um ihm von dem Fund zu erzählen. Und vermutlich suchte er vorher auch die Werkstatt Port auf, denn mein Urgroßvater hat zwei fotografische Aufnahmen von der Taube gemacht. Im nächsten Schritt haben die Männer die Taube von Alexander Schnütgen in Köln untersuchen lassen.“

In seinem Standardwerk über die Geschichte von Münstermaifeld bezieht sich Josef Rottländer auf Notizen der Gebrüder Balmus. Er zitiert aus den „Aufzeichnung des Malermeisters Johann Balmus in Bezug zur Eucharistischen Taube“:

Meinem am 12. Nov. 1910 verstorbenen Vater ist es zu verdanken, dass die wertvolle Eucharistische Taube, erhalten blieb:    

„Die Kanzel in der Filialkirche in Wierschem war früher in der Pfarrkirche zu Münstermaifeld. Als letztere (Stiftskirche) 1865 renoviert wurde kam eine neue Kanzel in dieselbe. Wierschem erhielt die alte Kanzel von Münster. Auf dem Schalldeckel derselben war die „Taube" als hl. Geist angebracht. In Wierschem konnte man aus Platzgründen den Schalldeckel nicht unterbringen.

Unser Hochwürden Herr Pastor Ohlberger gab die „Taube" meinem Großvater mit den Worten: „ Du Balmus hol dir den Vogel mit." Die Wierschemer behaupten die „Taube" sei ihnen. Aber es nicht so! Schon 1815 erwähnte der Chronist Johannes Büchel die Taube in seinen Aufzeichnungen um 1800. Er schilderte die Kanzel (also die jetzige in Wierschem) als eine kleine Kanzel welche ein Herr von Eltz für die Pfarrkirche anfertigen ließ, mit seinem Wappen, der Schalldeckel hatte einen schönen Aufbau, worin die Taube als hl. Geist, wie schon bemerkt, angebracht war.

Mein Großvater befestigte die ihm vom Pastor Ohlberger überlassene Taube zu Hause auf einem Schrank. Wir Kinder spielten immer damit. Es ahnte ja niemand, welchen hohen Wert dieselbe hatte. Als mein Vater durch Zufall entdeckte, welchen Zweck die Taube in den frühen Jahrhunderten hatte, untersuchte er sie. Er kratzte die alte Farbe ab und stellte nun den Urstand der Taube fest.

An Material hat sie wenig Wert, wohl aber einen hohen Altertumswert. Es sind noch einige Exemplare in Europa vorhanden. Nachdem mein Vater die Entdeckung gemacht hatte, wurde die Taube, mein Großvater lebte noch, im Pfarrhaus dem Hochwürdigen Herrn Pfarrer Roup abgegeben.

Zu dessen Zeiten soll die „Taube" einen Wert von 42 000, - Mark gehabt haben."

Da sein Urgroßvater mit den Gebrüdern Balmus oft und eng zusammengearbeitet hat, vermutet auch Otto Wölbert in den Unterlagen der Malerfamilie bzw. in den Unterlagen seiner Vorfahren noch weitere Hinweise und Informationen über das kostbare Stück. So ist bis heute die Geschichte der Eucharistischen Taube noch nicht zu Ende geschrieben.

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